Frankreich besitzt eine grobe, von Rousseau bis Foucault und Castoriadis reichende sozialphilosophische Tradition. Heute scheint sie aber kaum mehr aktuell, denn die Erneuerung von kritischer Reflexion in Verbindung mit praktischer Einstellung geschieht nicht länger im Zeichen von strukturalistischer Machtanalyse oder ontologischer Gesellschaftstheorie. Im Gegenteil : in einem bisher unbekannten Mabe hat sich die jüngere Denkergeneration auf eine produktive Rezeption von Habermas’Kommunikationstheorie eingelassen, ohne dabei die idealistische deutsche Tradition zu vernachlässigen. Systematisches Denken und Rückgriff auf „grobe Erzählungen" lassen so ganz unpolemisch spürbar werden, was diese Generation von ihren postmodernen und dekonstruktivistischen Vorgängern unterscheidet.
Jean-Marc Ferry, Jahrgang 1946 und nicht mit seinem jüngeren Bruder Luc zu verwechseln (siehe FR vom 17.5.1994), arbeitet an einem groben Projekt, das sich die Ergebnisse so verschiedener Disziplinen wie Psychologie und Soziologie, Linguistik und Semiotik, Anthropologie und Religionsgeschichte angeeignet hat. Der am Pariser Zentrum CNRS angestellte Forscher und in Brüssel Philosophie lehrende Professor versucht die Bedingungen zu rekonstruieren, unter denen sich in der heutigen Welt die Anerkennung von Individuen und Nationen vollzieht. Das äuberst dicht formulierte Hauptwerk geht unmittelbar und unkritisch auf Hegels Philosophie zurück. Es zeichnet sich näher dadurch aus, dab es die Anerken-nungsproblematik bis in die Anfangsgründe der menschlichen Erfahrung zurück verfolgt (das sind die drei ansteigenden „Potenzen" : Empfinden, Handeln und Diskurse führen).
Den harten Kern bildet die These, nach der ein systematischer Zusammenhang zwischen Weltverständnis und diskursiv ausdifferenzierten Identitätsformen besteht. So entspricht – schematisch gesprochen – der narrativen, interpretativen, argumentativen und rekonstruktiven Identität jeweils ein mythisches, metaphysisches, kritisches und historisches Weltverständnis. Zum Kern der These gehört ferner die Ansicht, dab persönliche Identität zuallererst „grammatikalische Identität" ist, wobei Grammatik (gemeint sind die drei Personalpronomen Ich-Du-Er/Sie/Es) vor ihrer linguistischen eine ontologische Bedeutung zukommt. Die Originalität dieses systematischen Entwurfes stach gleich nach Erscheinen von Les Puissances de l’expérience hervor : Paul Ricoeur hat die Arbeit als eines „der wichtigsten Werke" der letzten Jahre gelobt sowie dessen „Reichweite und Strenge" betont.
Der hier diskutierte Identitätsbegriff speist sich aus einer negativen Erfahrung, d.h. aus der Bedrohung aller Identität durch die aktuelle soziale Entwicklung. Nach Ferry stecken alle „Komplexe", in denen Anerkennung durch systemische „Regulatoren" vermittelt wird, in einer Krise – sowohl der sozialökonomische Komplex als auch der sozialpolitische und der sozialkulturelle. Genauer werden zum Beispiel das Steuer –, das Rechts- und das Mediensystem scharf als vollends irrational, archaisch oder krankmachend angeprangert. Die Moderne erscheint so mit einem Janusgesicht : „Ihr haftet ausdrücklich etwas „Pathogenes" an, das Ferry mit den klassischen, heute etwas auber Gebrauch geratenen Begriffen der Sozialphilosophie als „Entfremdung" und „Verdinglichung" bezeichnet. Im Gegensatz dazu richten sich die Erwartungen der „Orthogenese", d.h. die Wiederherstellung von nicht-entfremdeter Identität, auf autonome, im Rahmen intersubjektiver Verständigungsprozesse erzeugte Kräfte.
Im Hinblick auf die kollektive Identität vertraut Ferry auf die Erweiterung, genauer auf eine Internationalisierung der Öffentlichkeit : Seine Hoffmungen ruhen auf einer europäischen emanzipierten Öffentlichkeit mit Bildung einer „postnationalen Identität". Eine wie auch immer gefabte kommunikative Ethik soll also insgesamt die Prinzipien freisetzen, die stark genung wären, die Blockaden des bürokratischen Systems aufzubrechen oder die Gefahren von Supranationalismus und Regionalismus wirksam zu bekämpfen.
Ferry steht zwar grundsätzlich auf dem Boden der Kommunikationstheorie und der Diskursethik, aber nicht immer mit beiden Füben. Die eingehend analysierte Bedrohung der Lebenswelt durch das System füllt den von Habermas definierten Rahmen weiter als bisher geschehen aus, ohne ihn zu überschreiten. Ferry schwächt dann allerdings die „Kolonialisierungs"-These entscheidend ab, wenn er instrumentelle Vernunft nicht streng gegen kommunikative Vernunft abgrenzt und jene sogar als eine Art Derivat von dieser erklärt. Seine Eigenständigkeit versucht Ferry schlieblich mit einer laizistisch-religiös zu bezeichnenden Vertiefung der Kommunikationstheorie zu beweisen.
„Kommunikation ist unsere postindustrielle Ideologie", erklärt Ferry, aber er möchte sie moralisch mit einem Anerkennungsbegriff erweitern, der die anonymen Opfer der Geschichte umfabt, also diejenigen, denen Anerkennung strikt verweigert worden ist. Deshalb verweist er auf Walter Benjamins Utopie „schwacher messianischer Kräfte", weil er verhindern will, dab in der Vergangenheit verschuldetes Unrecht für immer aus dem Gedächtnis verschwindet. Gemeint ist das Gedächtnis der Deutschen angesichts ihrer barbarischen sowie das der Europäer angesichts ihrer kolonialen Vergangenheit. Nach Ferrys spekulativer Ansicht läbt sich Diskursethik ausdrücklich nicht von „Erlösungsethik" abtrennen. Religion heibt hier – mit Hemann Cohen gesprochen – so viel wie Respekt vor dem Leiden und der Differenz des Anderen.
Trotzdem bleibt offen, ob Ferry „religiös" immer nur so säkularisiert oder metaphorisch gebraucht wie zugegeben. So fragt er zum Beispiel angesichts der heutigen „Wiederkehr des Religiösen" nach dem, was imstande wäre, die von der selbstzerstörerischen, modernen Rationalität verursachte „Leere" wieder auszufüllen – und das könne nicht allein gemäb der Argumentationsethik von Jürgen Habermas geschehen.
Hier wird der Schüler zum skeptischen Kritiker. Ferry hat längere Zeit bei Habermas studiert ; er hat ferner dessen Kommunikationstheorie zum Teil übersetzt und sich darüber mit einer äuberst umfangreichen Arbeit habilitiert (Doctorat d’État 1985, veröffentlicht 1987). Theoretisch am weitesten entfernt von seinem Lehrer ist er mit seiner Konzeption einer von der Universalpragmatik deutlich abgegrenzten „Fundamentalpragmatik". Darunter versteht er die allgemeinste Möglichkeit einer personalen Kommunikation, die im Gegensatz zu Habermas’ Anschauungen unabhängig von diskursiver Anerkennung der Geltungsansprüche gelingen kann. Kurz : Identität vermag sich kommunikativ „jenseits von Worten" zu vollziehen.
Diese Vertiefling ergibt sich konsequent aus der Loslösung des Anerkennungsbegriffs von sprachlicher Interaktion, die Ferry im Rückgang auf den Jenenser Hegel vornimmt. Deshalb bedeutet für ihn Anerkennung letztlich nicht mehr als Respekt vor bzw. verletzungsfreier Umgang mit dem Anderen (ob Mensch, Natur oder historisches Denkmal).
Wenn aber nun „Anerkennung" nicht nur – pathetisch gesehen – Anerkennung von sprachlosem Leid, sondern auch nur Respekt vor einer Pflanze oder – juristisch betrachtet –gegenseitige internationale Anerkennung bedeutet, dann fehlt Ferrys Schlüsselwort offensichtlich begriffliche Schärfe. Das bekräftigt ein Vergleich mit dem ähnlich angelegten Unternehmen, das Axel Honneth unter dem Titel Kampf um Anerkennung vorgelegt hat (Frankfürt/Main 1992). Die beiden systematischen Philosophen gehen gemeinsam von Habermas und dem frühen Hegel, dem Theoretiker des Kampfes um Anerkennung aus. Aber aufgrund seines empirischen Ansatzes vermag Honneth dann zwischen drei Formen der sozialen Integration zu unterscheiden (Liebe bzw. Freundschaft, Rechtsverhältnis und Wertschätzung), die auf drei Formen der Mibachtung zurückgehen (Mibhandlung, Entrechtung und Entwürdigung), während Ferry lediglich zwischen allgemeinen „Anerkennungsmilieus" (Lebenswelt und Geschichte) und „Ordnungen der Anerkennung" unterscheidet (soziale Systeme und „Welt der Personen").
Obwohl Ferry sich auf das Erbe der Frankfurter Schule bezieht und das „kritizistische Prinzip" (Ferry) als das höchste und aktuellste auffabt, läbt sich zuletzt nicht übersehen, was ihn von einer kritischen Gesellschaftstheorie trennt. Die spekulative, religiöse Überhöhung der Kommunikationstheorie bricht einem solchen Projekt die praktisch-kritische Spitze ab. Ferner bleibt fragwürdig, ob jemand die kritische Tradition – wenn Ferry es denn wollte – fortführen kann, der die nachhegelianische Öffnung zur gesellschaftlichen Praxis ganz ausspart. Das hat der von Ferry stark beeindruckte Philosoph Rainer Rochlitz in seiner Besprechung zu recht in die kritische Waagschale geworfen (Critique Nr. 536-537, 1992). Die junghegelianische „Zäsur" nahezu ausblenden heibt, die traditionelle, autonome Stellung der Philosophie wieder erneuern.
Sommaire du tome 1, Le Sujet et le verbe :
Sommaire du tome 2, Les Ordres de la reconnaissance :